Zu den > Zimmerreisen 10/2021 mit U habe ich mir als Erstes das U wie „Unbekannte“ vorgenommen.
Mit der „Unbekannten“ meine ich die Maske aus dem feinen, roten Ton – siehe die ersten beiden nagelneuen Fotos. In den 50er Jahren kamen Ziergegenstände aus diesem Material aus der Produktion der „Wormser Terra-Sigillata-Manufaktur“ in Mode und in viele deutsche Wohnungen, so auch bei meinen Eltern, die sich damals sogar in Worms am Rhein niedergelassen hatten. Das feine, rotbraune keramische Material ist einem antiken Vorbild aus der römischen Kaiserzeit nachempfunden, mit Ursprung im Arezzo, genannt > Terra Sigillata.
Seit der Gründerzeit versuchten sich verschiedene Keramiker daran, diese antiken keramischen Erzeugnisse mit rotbraunem, glattwandigem Glanzton-Überzug für die moderne Produktion nachzuerfinden. Mehrere waren damit erfolgreich. Einer davon war der Betriebsleiter der Keramischen Werke Offstein und Worms AG, Jean Kling (1878-1946). Ihm gelang in den 30er Jahren, eine ähnliche Keramik herzustellen und ein Patent darauf zu erlangen. Die Rechte übertrug er zur gewerblichen Nutzung der Stadt Worms, die sich zur Errichtung der Manufaktur verpflichtete, wozu es aber erst nach dem II. Weltkrieg kam.
1949 nahm die „Terra-Sigillata-Manufaktur der Stadt Worms“ die Produktion auf und wurde 1950 privatisiert: Willi Jizba nannte sie um in „Wormser Terra-Sigillata-Manufaktur“. Nach und nach wurde das Angebot erweitert und umfasste in den späteren 50er Jahren zierkeramische Objekte und Gebrauchskeramik. Vor allem Wandteller, Wandmasken und andere figürliche Objekte kann man heute wegen des Generationenwechsels vielfach auf Ebay finden.
Ich selbst besitze aus dem ehemaligen Hausstand meiner Eltern eine Vase und diese Maske, von denen ich mich nicht freiwillig trennen werde, denn sie begleiten mich seit meiner frühesten Kindheit.
Sie waren schon vor meiner Geburt und sogar der meines älteren, in Worms geborenen Bruder Gegenstände ihrer ersten richtigen Wohnungseinrichtung.
Auf dem Schwarzweissfoto links ist sie 1955 an der Wand über einem Sideboard zu sehen, mit einer aus Gras gewebten, dünnen Matte als Hintergrund.
Bei mir hängt sie heute auf heller Tapete in der Diele.
„Sie“ – wer ist sie eigentlich, die dargestellte Person?
Als kleines Kind wollte ich das schon wissen, und bekam von meiner Mutter die Antwort, das sei eine Totenmaske der „schönen Unbekannten aus der Seine“, die mit ihrem unglücklichen Schicksal und ihrer Schönheit die Menschen so berührt habe, dass ihr Bild genauso aufgehängt wurde wie Gemälde.
Weil auch in den Märchenwelten nicht alle Geschichten einen guten Ausgang nehmen, fand ich die Erklärung überzeugend.
Für mich war das Gesicht auch schön, nicht gruselig.
Dass abgebildete Gesichter oft die toter Menschen sind, kannte ich schon aus dem Familien-Fotoalbum.
Erst als ich den Hausstand und seine Gegenstände nach dem Tod meiner Eltern übernahm und aussortierte, beschäftigte ich mich wieder mit der Maske.
Ihre Herkunft eindeutig, denn es gibt auf der Rückseite einen mit dünnen Linien eingeprägten Stempel der „Wormser Terra-Sigillata-Manufaktur“ und eine winzige „500“.
Die Geschichte der lächelnd aus dem Wasser geborgenen Unbekannten aus der Pariser Seine lässt sich dank Internet besser verfolgen als früher. Vor allem gibt es Abbildungen, zu Beispiel im ausführlichen Wikipedia-Artikel über > Die Unbekannte aus der Seine, um die sich seit ihrem Auffinden um 1900 viele romantische Legenden ranken, durch die sich künstlerische Gemüter zu verschienen literarischen Formen inspiriert fühlten. Die Unbekannte aus der Seine wurde durch ihre Schönheit und Mutmassungen über ihr Schicksal geradzu Kult.
Die Bilder dort haben mit meiner „Unbekannten“ keinerlei Ähnlichkeit. Es gibt sogar eine Maske aus der Wormser Produktion, die dem echten Vorbild nachempfunden wurde, nur meine ist es eben nicht.
Jüngere Masken tragen auf der Rückseite manchmal einen Namenszug des Modells – meines nicht. Weil ich bisher (Stand: heute) keine weitere, gleich aussehende Darstellung gefunden habe, ist sie zwar nicht „Die schöne Unbekannte aus der Seine“, aber das mir vertraut gewordene Gesicht ist auf jeden Fall das einer sehr schönen Unbekannten.
Genau diese gleiche Totenmaske ist gerade auch bei mir zu sehen gewesen, jedenfalls spielt sie in unserer neuen Famile eine wesentliche Rolle (neu=also für uns im Kleinen).
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Tatsächlich die gleiche Maske? Ich staune …
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Ja, aber die war ja damals sehr bekannt und beliebt. Mein Mann hatte sie in seinem Junggesellenzimmer hängen, zuerst.
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„Die Unbekannte in der Saine“, – eine sehr berühmte Totenmaske einer jungen Frau, die der Legende nach in der Saine ertrunken ist, wohl aus Liebeskummer…, ja die befindet sich auch bei uns.
Als ich zum erstenmal das Junggesellen-Zimmer meines späteren Mannes betrat, der noch in der Wohnung seiner Eltern in Göttingen lebte, sprach mich diese schwarze Maske schon sehr an.
Später sah ich das gleiche Portrait im Foto auch als weiße To2tenmaske und konnte mich nicht für eine der beiden entscheiden.
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Das kann ich mir vorstellen. Jede Farbgebung mag ihre eigene, ausdrucksvolle Wirkung haben.
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Ja, so ist es.
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Eine spannende Geschichte wieder und eine faszinierende Maske. Ich glaube, ich kenne das Material von anderen Figuren / Ausstellungen. Das allein finde ich schon sehr ansprechend. Mir gefällt auch das Schwarzweiß-Foto. Es erinnert an alte Kunst-Bildbände. Die Maske hat dort einen tollen Platz. Ich empfinde das Gewebe als sehr passend. Die Tote aus der Seine sieht in der Tat erstaunlich friedlich aus. Es ist immer wieder interessant, deinen Besitztümern auf deinen Recherchewegen zu folgen :-)
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Ich weiss, was du mit dem Schwarzweissfoto meinst. Ich habe einige solcher alten, mit sw-Foto-Illustrationen versehenen Bücher geeerbt und heute staunt man, wie schlecht die Bildqualität damals sein durfte.
Ich denke, der Titel „Unbekannte aus der Seine“ wurde zu den Zeiten, als sie so legendär gehandelt wurde, für viele Abbilder schöner weiblicher Gesichter verwendet, weil man eine Geschichte mitverkaufen konnte.
Ich bin selbst immer wieder erstaunt. 🙂
Hier ist noch ein Foto von 1955 – extra für dich, wegen des Bezugs der Stühle:
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Oh super! Die Stühle sehen ja megaschick aus! Da waren deine Eltern richtig stilvoll eingerichtet. 1955 war wohl beste Nierentischzeit? Ja, die Qualität war eine andere. Was machbar und vermutlich auch bezahlbar war. Danke für das tolle Bild :-)
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Einen Nierentisch hatten sie allerdings nicht, nicht mal ein Sofa. Das waren die einzigen Sessel und der Tisch war dreieckig. Bis auf die Sesselchen waren ihre ersten Wohnzimmermöbel vom Tischler und wurden 5-Mark-weise abgestottert. Dafür haben sie viele Jahrzehnte lang gehalten. Soweit ich weiss, waren die Möbel in den Schlafzimmern meiner Eltern und Grossmutter und Küche dafür gebraucht gekauft. Furnierte oder sonstwie beklebte Tischlerplatte und Pappe gab es nur an ein, zwei Kleinmöbeln, an die ich mich vage erinnere.
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So war das damals :-) 5 Mark, man kann sichs kaum vorstellen, daß das mal soviel Geld war. Und daß die Sachen dafür so lange gehalten haben, davon kann man heute nur träumen. Fast fragt man sich, wovon die Firmen früher gelebt haben, aber wahrscheinlich von der Reparatur und den höheren Anschaffungspreisen. Es war alles so nachhaltig, dann hat man alles vernichtet und heute schreit man wieder nach Nachhaltigkeit. Es ist so obskur!!!!!
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Ja, Reparaturen, Umbauten, höhere Preise. Die „Geiz-ist-Geil“-Un-Kultur, der man anfangs ja auch erlegen ist, gepaart mit der Suggestion, dass man sich alle paar Jahre „moderner“ einrichten müsste, haben viel geistigen und materiellen Schaden angerichtet.
Voriges Jahr oder Anfang diesen Jahres sah ich eine TV-Sendung, wo eine „Fach-Jury“ durch die Lande tingelte und Häuser bewertete: einer bemängelte bei einem ökologisch gebauten Haus, dass das (massivhölzerne) Mobiliar in die Jahre gekommen und nicht modern sei – da fällt einem doch nichts mehr ein.
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Nee, wirklich nicht! Zumal massive Möbel oft so viel besser sind, als der Sch…. von heute.
Ja, diese es geht noch billiger Mentalität hat alles versaut.
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Menschen sind über die Gier nach persönlich zu erlebendem Genuss am leichtesten zu steuern. „Mehr ist mehr“.
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Ich weiß nicht, ob es am Alter liegt, aber inzwischen brauche ich erheblich weniger. Und in der Natur wird man ständig kostenlos beschenkt :-)
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Geht mir genauso. Niicht umsonst sind für Marketingumfragen die Menschen über 45 nicht mehr relevant.
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Ohoh, wir sind schon völlig raus ;-) ?
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Allerdings. Bei uns ist es mehrmals vorgekommen, dass diese Markforschungsanrufe nach Erfragen der Altersgruppe sich so erklärt haben, dass man leider nichts miteinander anfangen könne, weil nur das Segment der 16-45jährigen relevant sei.
Als ich das zum ersten Mal gehört habe, damals noch in Österreich, war ich direkt beleidigt.
Wie ich bei Wikipedia gerade über die sogenannte Werberelevante Zielgruppe las
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Ich bin da auch raus, falle aber unter die Verschiebung ;-) Das erklärt vielleicht auch das häufig schlechte Fernsehprogramm für unsere Altersgruppe… Jedenfalls scheint mir das auch sehr willkürlich zu sein, wie weiter unten ja beschrieben wird. Aber interessant, daß wußte ich noch nicht!
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Man erkennt es an der Werbung für gedächtnisstützende Mittel und Inkontinenzslips, wo man durch die Wahl seines Programms zugeordnet wird.
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Wie nett!
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Ja, man erinnert sich gleich daran, ein paar Kegelübungen zu machen.
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^^
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Interessant, dass sich gerade verschiedene Leute aus so verschiedenen Kontexten und Gründen mit der Unbekannten aus der Seine beschäftigen. Kürzlich hat auch einer meiner Lieblingspodcasts eine Folge zu diesem Thema produziert, hier nachzuhören:
https://hoaxilla.com/hoaxilla-283-seine/
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So einen Wandbehang aus Bast hatten wir damals auch, im Wohnzimmer, muss modern gewesen sein ….
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Ja, das war bestimmt so. Bei uns gab es zwei. Einen leicht gelblichen hinter der „Unbekannten“ und in einem anderen Raum einen blassgrünlichen hinter einem grauen, aus rauhem Material geformten Kopf des „Bamberger Reiters“, von dem ich aber annehme, dass er ohne schwierige politische Konnotation vermitteln zu sollen in verschiedenen Wohnungen meiner Eltern bis Anfang der 2000er Jahre an der Wand hing, dann kam er aber durch mich weg. Im Gegensatz zur „Unbekannten“ mochte ich von frühester Erinnerung an nicht sonderlich leiden.
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Bamberger Reiter an der Wand – ungewöhnlich …
Es gibt sogar eine Fotoserie mit unserem Bastteppich. Irgendwann in den 50ern kam nämlich der Dorffotograf ins Haus und alle Familienmitglieder wurden nacheinander auf das Sofa gesetzt und vor dem schönen Basthintergrund fotografiert… dazu so ein Regalbrett, das an dickeren Seilen hing ….
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Auch schön! Regale mit Seilhalterung muss ich auch irgendwo gesehen haben, erinnere aber aus dem Familienhaushalt nur zierliche schwarz-metallene Halterungen. Wäre heute vermutlich wieder total modern, mit den Teakholz(-furnierten?) Brettern.
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Diese leiterähnlichen Metallregalhalterungen kamen wenig später in Mode. Die frühesten Modelle gelten heute als Designklassiker … was sie nicht schöner macht, mir kamen und kommen sie immer wie ein Behelfsregal vor, nicht so arg, aber doch auf einer Linie mit Brettern auf Ziegelsteinen als Regal.
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Wobei ich alte gewachste Bretter mit verschiedenen handgefertigten und gestempelten Ziegeln aus der vorindustriellen Zeit wieder sehr feiern würde, denn das Thema Ziegel ist sehr interessant.
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Aus solchen Ziegeln habe ich in unserem alten Haus beim Anbau einen Kamin gebaut. Die Ziegel waren sozusagen Abfallprodukt von einer Wand, die ich entfernt habe. Sah nicht schlecht aus, zugegeben, war aber eine blöde Arbeit, weil die Ziegel – vor allem, weil man für die Wände wohl Ziegel dritter Wahl genommen hatte – unterschiedlich groß und unterschiedlich krumm waren.
Hier im Ferienhäuschen hab ich für die beiden Kamine=Schornsteine dann neue Ziegel genommen, da mauert es sich dann lockerer
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Früher hat man gern gebrauchte Ziegel von überallher vermauert. Das ist dann fast so zeitraubend, wie mit Natursteinen zu bauen.
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Die Mühsal des Mauerns mit Natursteinen habe ich auch hier kennenlernen dürfen. Am Ende sagen alle: Sieht fein aus, aber wirklich vorstellen, wieviel Arbeit dahinter steckt, kann kaum jemand.
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Manchen fehlt es einfach an eigenen Erfahrungen. Es ist auf jeden Fall langwierig, selbst wenn man Spass am Zusammenfinden der passenden Steine hat. Und es kann nur einen Maurer geben, keine zwei, die jeder nach ihrem eigenen Gefühl Steine zusammenfügen, weil man das nacher viel zu deutlich sehen kann.
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